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Fachartikel
08. Juli 2025

Strassenverkehr

Belastungsdynamik der Gewässer durch Reifenadditive

Mit dem Reifenabrieb gelangen Additive, die bei der Herstellung von Fahrzeugreifen verwendet werden, über das Strassenabwasser in die Gewässer. In drei Studien wird die Dynamik dieser Reifenadditive im Abwasser sowie in den Gewässern, die das Abwasser aufnehmen, aufgezeigt. Die Resultate liefern eine Daten- sowie Diskussionsgrundlage für dringend benötigte weitereArbeiten.
Matthias Ruff, Elmar Scheiwiller, Anne Niggli, Rico Ryser, Simona Stump 

Im Jahr 2021 rief eine Publikation einer Forschungsgruppe in Kanada Besorgnis unter Umweltfachleuten und Behörden hervor [1]: Es wurde festgestellt, dass Additive, die dem Material bei der Herstellung von Fahrzeugreifen zugesetzt werden, zu einem Fischsterben führen können. Die Additive werden aus den Partikeln des Reifenabriebs herausgelöst und gelangen in das Abwasser von Strassen. Damit werden sie in die aquatische Umwelt entlassen. Die kanadische Studie beschäftigte sich vor allem mit dem Oxidationsschutzzusatz 6-PPD, das in der Umwelt zu 6-PPD-quinon (6PPDq) oxidiert wird. Die im Pazifik heimische und in Kanada laichende Art der Silberlachse reagiert äusserst sensibel auf 6PPDq, was zu Lachssterben führt.

Daraufhin stellten sich folgende Fragen: Treten Reifenadditive auch in Schweizer Gewässern auf? Und wenn ja, wirken sie sich negativ auf die Fischpopulation aus? Schliesslich gehört die heimische Forelle wie der Lachs zur Familie der Salmoniden. Mit dieser Studie will das Autorenteam einen Beitrag dazu leisten, Eintragsdynamik und Verbreitung von Reifenadditiven zu verstehen. Basierend darauf kann später aufgezeigt werden, ob eine Gefährdung für die heimische Flora und Fauna besteht.

Reifenabrieb entsteht in grosser Menge auf National- und Kantonsstrassen [2]. In dieser Studie lag der Fokus einerseits auf Strassenabwasserbehandlungsanlagen (SABA), die das Abwasser von Strassen sammeln und aufbereiten [3]. Der Zweck der Anlagen ist in erster Linie der Rückhalt der partikulären Fracht des Strassenabwassers. Inwieweit dies auch für gelöste Stoffe gelingt, soll hier gezeigt werden. Andererseits sind bisher jedoch erst wenige Strassenabschnitte mit modernen SABA ausgestattet. Daher wurden auch Gewässer untersucht, in die nur rudimentär behandelte Strassenabwässer (z. B. Ölabscheidebecken) gelangen.

Studie

Zu diesem Thema sind bereits zahlreiche Studien veröffentlicht worden [4–6]. Es zeigt sich, dass neben 6PPDq auch der Vulkanisationsbeschleuniger 1,3-Diphenylguanidin (1,3DPG) sowie das Vernetzungshilfsmittel Hexamethoxymethylmelamin (HMMM) genannt werden [7]. In dieser Studie wurden weitere Stoffe  wie z. B. 2-Methylmercaptobenzothiazol oder Benzimidazol gemessen. Aufgrund der geringen Anzahl an anderen Befunden richtet sich der Fokus in diesem Artikel auf die drei erstgenannten Stoffe.

Stabilität der Substanzen

In einem Laborexperiment wurden die Stoffe auf ihre Stabilität getestet. Dazu wurden Realproben (SABA Zu- und Ablauf) auf ihren Gehalt bestimmt (Tag 0) und dann fünf Wochen bei verschiedenen Bedingungen gelagert: im Gefrierschrank (–20 °C), im Kühlschrank (4 °C) und bei Raumtemperatur.

Studie 1: Zu- und Ablauf einer SABA

In der ersten Studie fanden die Untersuchungen direkt an einer grossen und modernen SABA statt. Die SABA Rubigen wurde im Jahr 2019 gebaut und ist mit Sandfilter ausgerüstet (Fig. 1). Es wurden Zu- und Ablaufproben untersucht. Da die grosse Anlage zahlreiche Pumpstationen und Einlaufsysteme beinhaltet, fiel der Entscheid wegen der enorm hohen Dynamik und der grossen Wassermassen auf eine abflussproportionale Beprobung. Die gekühlten Probenehmer entnahmen dem Zulauf sowie dem Ablauf alle 100 m3 ein Aliquot und erstellten alle 500 m³ eine neue Probe.

Studie 2: SABA-Ablauf und Gewässer

In diesem System wurde der Ablauf einer modernen SABA untersucht sowie das Gewässer, in welches das gereinigte Abwasser eingeleitet wird.

Die SABA Bözingenfeld bei Biel wurde 2017 gebaut und ist mit einem Sandfilter ausgerüstet. Am Auslauf der SABA fand eine abflussproportionale Probenahme statt (Aliquot alle 50 m3, eine Probe enthielt 1600  m3). Im Gewässer wurden mit einem gekühlten Probenehmer zeitproportionalen 3-Stunden-Mischproben währende mehrerer Regenereignisse eingefangen.

Studie 3: Gewässer ohne SABA

Im Einzugsgebiet der NAWA-Messstelle der Urtenen, Kernenried BE, befindet sich die Nationalstrasse N1 zwischen Kirchberg und Schönbühl. Das Abwasser der Autobahn wird noch nicht über eine SABA geleitet und gelangt nur rudimentär behandelt in die Urtene. Die Probenahmestation ist mit einem gekühlten Probenehmer ausgestattet, es werden 3,5-Tages-Mischproben zeitproportional hergestellt. Um eine detailliertere zeitliche Dynamik aufzeigen zu können, wurden mit einem zweiten Probenehmer zwei Regenereignisse in 3-Stunden-Mischproben aufgelöst (Aliquot alle 15 min). Parallel wurden die 3,5-Tages-Mischproben untersucht.

Ergebnisse

Stabilitätsexperiment

Während sich HMMM und 6PPDq bei allen getesteten Bedingungen (nicht steril) stabil verhielten, konnte 1,3DPG unter Raumtemperatur (22 °C) in Zulaufmatrix nach 7 Tagen und auch in Ablaufmatrix nach 14 Tagen nicht mehr nachgewiesen werden. Bei einer Lagerung im Kühlschrank war 1,3DPG in Zulaufmatrix nach 23 Tagen nur noch zur Hälfte nachweisbar, in Ablaufmatrix blieb die Substanz 35 Tage stabil. Dies deutet auf eine geringe Stabilität von 1,3DPG in der Abwassermatrix der SABA hin.

Studie 1

Es stellt sich als nicht ganz einfach heraus, die Konzentrationen aus einer SABA darzustellen, da die Anlagen aus langen Zuleitungen mit etlichen Pumpenbecken entlang der Fahrbahn bestehen. Bei Regen läuft in diesem System in kurzer Zeit sehr viel Abwasser zusammen, das zur SABA gepumpt wird. Die Proben wurden im Zulauf zum Hauptbecken der SABA Rubigen entnommen. In Figur 2 sind die Konzentrationen der abflussproportionalen Proben kumulativ aufgetragen, die hohe Dynamik wird in der kurzen Abfolge der Proben ersichtlich. Während der beiden Kampagnen am 30. März und 7. April 2023 wurden über der Autobahn mehrere schwache bis intensive Regenereignisse registriert (blaue Balken). Bereits mit der ersten Probe werden alle untersuchten Additive im Zulauf nachgewiesen. HMMM und 1,3DPG erreichen Konz. von 4 bzw. 5 µg/l, 6PPDq mit 0,2 µg/l deutlich weniger (eigene Konz.-Achse). Daraus lassen sich über den gesamten Zeitraum der Messungen vom 29. März bis 12. April 2023 im Zulauf folgende Frachten ableiten: HMMM: 39,9 g; 1,3DPG: 36,5 g; 6PPDq: 2,2 g. Im unteren Teil der Graphik ist dem Zulauf der Ablauf der SABA gegenübergestellt. Die zeitliche Dynamik ist durch das Volumen der SABA versetzt. Es lässt sich leicht erkennen, dass im Auslauf hauptsächlich HMMM detektiert wird, die Konzentrationen von 1,3DPG und 6PPDq sind deutlich reduziert. Die berechneten Frachten für den Auslauf betragen: HMMM: 35,7 g (Reduktion: 10%); 1,3DPG: 5,8 g (Reduktion: 84%); 6PPDq: 0,7 g (Reduktion: 68%)

Die Abnahme von 1,3DPG kann auf einen Rückhalt in der SABA hindeuten, es kann aber auch die geringe Stabilität oder eine Kombination Grund für die Reduktion sein. 6PPDq hingegen ist stabil, zeigt aber einen deutlichen Rückhalt durch den Sandfilter.

 

Studie 2

In dieser Studie wurde der direkte Einfluss auf das Gewässer im Sommer 2023 untersucht. Figur 3 stellt die Konzentrationen in der Leugene dar, einem kleinen Gewässer, in das die SABA Bözingenfeld bei Biel entwässert. Auf ein erstes grosses Regenereignis folgen zwei kleinere. Im Gewässer steigen die Konzentrationen von 1,3DPG und HMMM in den zeit-proportionalen 3-Stunden-Mischproben schnell an und überschreiten 1 µg/l. Dabei bestätigt sich anfangs eine schnellere Dynamik für 1,3DPG, die auch in Studie 1 zu sehen ist. Allerdings beginnen die Konz. von 1,3DPG schneller wieder zu sinken, während HMMM länger ansteigt und die Konzentration von 1,3DPG schliesslich übertrifft. In der Kampagne wurde das Maximum bei HMMM noch nicht erreicht. Aufgrund des geringen Rückhaltevermögens des Sandfilters ist es möglich, dass die Konzentration von HMMM noch weiter steigt. Die Konzentrationen von 6PPDq sind auf einer eigenen Achse sichtbar und liegen deutlich tiefer, die Maximalkonzentration in einer 3-Stunden-Mischprobe beträgt 0,04 µg/l. Die Dynamik gleicht derer von 1,3DPG.

Zusätzlich wurden in dieser Studie auch Messungen im Ablauf der SABA direkt durchgeführt. Wieder handelte es sich allerdings aufgrund der unberechenbaren Flussdynamik um abfluss-proportionale Proben. Die Konzentrationen lagen zwischen 1,1 und 2,6 µg/l bzw. 18,0 g Fracht für HMMM, 0,4 und 0,5 µg/l bzw. 6,0 g Fracht für 1,3DPG und bis 0,3 µg/l bzw. 0,1 g Fracht für 6PPDq.

Studie 3

In diesem System wird ein Gewässer betrachtet, das indirekt mit Strassenabwasser in Kontakt steht. Das Strassenabwasser wird dabei nicht durch SABA aufbereitet. Die Urtenen wurde zunächst über einen 6-monatigen Zeitraum in Form von 3,5-Tages-Mischproben auf Reifenadditive gemessen. Die Datenreihe ist in Figur 4A dargestellt. HMMM und 1,3DPG sind im gesamten Zeitraum in der Urtenen nachweisbar mit Konz. zwischen 0,03 und 0,54 µg/l respektive 0,03 und 0,45 µg/l. Es ist klar ersichtlich, dass die Konzentrationen der beiden Additive mit dem Regen und dem Abfluss korrelieren. 6PPDq wird nur direkt nach Regenereignissen oberhalb der Bestimmungsgrenze (0,01 µg/l) bis knapp 0,03 µg/l detektiert. Es fällt auch in dieser Studie auf, dass HMMM und 1,3DPG nicht mit gleicher Dynamik auftreten. Ein klarer Trend ist nicht ersichtlich. Es ist nicht ausgeschlossen, dass bei 3,5-Tages-Mischproben die niedrigere Stabilität von 1,3DPG die Resultate beeinflusst.

Deshalb wurde eine weitere Kampagne im folgenden Winter bei tiefen Temperaturen wiederholt, um den Einfluss der Stabilität zu minimieren. Dabei wurden 3-Stunden-Mischproben über drei Tage hinweg genommen, um die exakte Dynamik im Gewässer besser verfolgen zu können (Fig. 4B). Es kam während der dreitägigen Kampagne sogar zu zwei Regenereignissen in Folge, beide führen zu deutlichen Konzentrationspeaks, die schnell wieder auf das Ursprungsniveau zurückgehen. Dies kann eine Folge der Einleitung ohne SABA sein. Aus den Daten geht hervor, dass 1,3DPG stets höher konzentriert vorliegt als HMMM. Im Vergleich zur 3,5-Tages-Mischprobe ist die Konzentrationsspitze während eines Ereignisses fünffach höher (die Konzentrationen der 3,5-Tages-Mischproben sind gestrichelt eingezeichnet) und erreicht für 1,3DPG bis zu 1,2 µg/l und für HMMM bis zu 0,6 µg/l. Mit bis zu 0,04 µg/l liegen die Konzentrationsspitzen für 6PPDq deutlich tiefer.

Fazit

Mit dem Strassenabwasser gelangen die Additive HMMM, 1,3DPG und 6PPDq mit dem Reifenabrieb in die Gewässer. Wird das Strassenabwasser in einer SABA mit Sandfilter behandelt, kommt es im Fall von 1,3DPG und 6PPDq zu Reduktionen von bis zu 84% und 68%. HMMM kann über den Sandfilter kaum (10%) zurückgehalten werden.

In Gewässern, in die Strassenabwasser eingeleitet wird, werden nach Regen Belastungsspitzen im µg/l-Bereich für HMMM und 1,3DPG gemessen. Die Konzentration von 6PPDq hingegen liegt meist eine Grössenordnung tiefer und erreicht in den Studien maximal 0,05 µg/l. Dies ist deutlich tiefer als jene in der eingangs erwähnten Studie (Konz. 0,3–19 µg/l). Die hiesigen Konzentrationen liegen zudem tiefer als der in der kanadischen Studie für den Silberlachs ermittelte LC50 von 0,8 µg/l. Beim LC50 sterben 50% der Population. Bis jetzt konnte das Ökotoxzentrum keine ökotoxikologischen Qualitätskriterien herleiten, da generell zu wenig toxikologische Daten vorhanden sind. Eine ökotoxikologische Bewertung unserer Ergebnisse ist daher im Moment nicht möglich. Hinweise auf Effekte existieren jedoch [8].

Die schwache ökotoxikologische Datengrundlage trifft auch auf 1,3DPG und HMMM zu, weshalb für diese Substanzen eine abschliessende Interpretation der Ergebnisse fehlt. Da Reifenadditive aber flächendeckend in den Gewässern in signifikanten Konzentrationen auftreten, besteht Handlungsbedarf. Dies auch mit Hinblick auf mögliche Veränderungen im Strassenverkehr: Fahrzeuge dürften künftig schwerer und die Bereifung grossflächiger werden, was wiederum zu mehr Reifenabrieb führen dürfte.

Bibliographie

[1] Tian, Z. et al. (2021): A ubiquitous tire rubber derived chemical induces acute mortality in coho salmon. Science, 371, pp. 185–189

[2] Sieber, R. et al. (2020). Dynamic probabilistic material flow analysis of rubber release from tires into the environment. Environmental Pollution, 258

[3] Steiner, M. et al. (2021): Dokumentation Strassenabwasser Behandlungsverfahren – Stand der Technik. Astra 88002 Ausgabe 2021, V2.00

[4] Foscari, A. et al. (2024): Leaching of tire particles and simultaneous biodegradation of leachables. Water Research 253, art. 121322

[5] Brinkmann, M. et al. (2022): Acute Toxicity of the Tire Rubber-Derived Chemical 6PPD-quinone to Four Fishes of Commercial, Cultural, and Ecological Importance. Environmental Science & Technology Letters, 9(4), 333–338

[6] Masset, T. et al. (2022): Bioaccessibility of Organic Compounds Associated with Tire Particles Using a Fish In Vitro Digestive Model: Solubilization Kinetics and Effects of Food Coingestion. Environmental Science & Technology, 56(22), 15607–15616

[7] Seiwert, B. et al. (2020): Source-related smart suspect screening in the aqueous environment: search for tire-derived persistent and mobile trace organic contaminants in surface waters. Anal. Bioanal. Chem., 412 (20), pp. 4909–4919

[8] Bergmann, A.J. et al. (2024): Estrogenic, Genotoxic, and Antibacterial Effects of Chemicals from Cryogenically Milled Tire Tread. Environmental Toxicology and Chemistry, Vol 43 (9), pp. 1962–1972

Dank

Wir bedanken uns bei Heinz Singer, Eawag, für den Austausch zur analytischen Methode. Ein grosser Dank gilt Irene Wittmer, AWA Bern, für die hilfreichen Anmerkungen zum Skript, sowie Etienne Vermeirssen für die Diskussionen dazu. Dem LC-MS-Team des GBL, Daniel Schlüssel, Christine Gauch, Noëmi Jossen, Sophie Schnurr und Linda Ryter danken wir für die Durchführung der Analysen. Dank auch an Bernhard Stettler und Simon Jaun für die schnelle Bereitstellung der Niederschlagsdaten. Alle Graphiken wurden von Anne Niggli erstellt.

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