Plattform für Wasser, Gas und Wärme
Fachartikel
31. März 2021

Gewässer

Netto-Ökosystemproduktion in Seen

Die Primärproduktion (Algenwachstum) in Seen ist die Basis der see-internen Nahrungskette. Sie hat Einfluss auf die Wasserqualität und den Sauerstoffgehalt im Tiefenwasser und trägt zur Einlagerung von Kohlenstoff in den Sedimenten bei. Eine kürzlich für mehrere Schweizer Seen getestete Methode erlaubt es, die Netto-Ökosystemproduktion mit vergleichsweise wenig Aufwand zu bestimmen. Sie basiert auf Messungen aus routinemässigen Monitoring-Programmen und ist ein robustes Mass für die Entwicklung der Trophie, des Phosphorhaushalts und der Sauerstoffzehrung eines Sees.

Mit weit ĂŒber 1000 Seen ist die Schweiz ein seenreiches Alpenland. Das Bundesgesetz ĂŒber den Schutz der GewĂ€sser (GSchG, SR 814.20) sowie die GewĂ€sserschutzverordnung (GSchV, SR 814.201) haben zum Ziel, eine gute QualitĂ€t der Schweizer GewĂ€sser sicherzustellen, sie vor nachteiligen Einwirkungen zu schĂŒtzen und ihre nachhaltige Nutzung zu gewĂ€hrleisten (Art. 1 GSchV). Dank Grenzwerten in den ZuflĂŒssen haben die NĂ€hrstoffkonzentrationen in fast allen Seen in den letzten Jahrzehnten deutlich abgenommen. Jedoch ist die Sauerstoffzehrung im Hypolimnion (geschichtetes Tiefenwasser) vieler Seen nach wie vor hoch. Die Anforderung, dass Seewasser zum Schutz höherer Lebewesen zu jeder Zeit und in jeder Tiefe mindestens 4 mg l–1 Sauerstoff (O2) enthalten soll, wird deshalb auch heute oft nicht eingehalten. Es stellt sich daher die Frage, ob die PrimĂ€rproduktion seit der Eutrophierungsphase teilweise noch gar nicht abgenommen hat.
Die GSchV (Anhang 2, Ziffer 13) gibt eine klare Zielsetzung vor: Der NĂ€hrstoffgehalt in einem See soll höchstens eine «mittlere Produktion» von Biomasse zulassen. Die Quantifizierung dieser zeitlich stark variierenden PrimĂ€rproduktion (PP) durch Fotosynthese von Algen und Cyanobakterien ist jedoch alles andere als einfach und beschĂ€ftigt die Wissenschaft seit Jahrzehnten (s. Box). Die Kenntnis darĂŒber, wie viel organisches Material ein See produziert, ist aus mehreren GrĂŒnden von Bedeutung:
– Das pflanzliche Plankton bildet die Basis der Nahrungskette eines Sees und hat deshalb einen vielfĂ€ltigen Einfluss auf alle Lebewesen (Zooplankton, Fische etc.) und somit auch auf die BiodiversitĂ€t eines Sees.
– Eine ĂŒbermĂ€ssige PrimĂ€rproduktion hat – besonders bei flachen Seen – negative Auswirkungen im Tiefenwasser. Sie verursacht durch Zehrung von O2 lebensfeindliche Bedingungen fĂŒr höhere Lebewesen und schrĂ€nkt deshalb den Lebensraum fĂŒr (kĂ€lteliebende) Fische ein. Die Aufbereitung von Trinkwasser wird bei anoxischen Bedingungen wegen der Bildung von reduziertem Eisen und Mangan sowie Geruchsstoffen technisch deutlich aufwendiger.
– Seen sind Naherholungs- und Lebensraum. Daher soll auch aus gesundheitlichen und Ă€sthetischen GrĂŒnden eine ĂŒbermĂ€ssige Produktion von Algen und Cyanobakterien vermieden werden.
– Seen sind ein wichtiger Teil des Kohlenstoffkreislaufs der Erde. Anorganischer Kohlenstoff (C) in Form von CO2 aus der AtmosphĂ€re wird von den Algen in Biomasse umgewandelt. Seesedimente, in denen absinkendes nicht-abgebautes organisches Material eingelagert wird, sind wichtige C-Speicher.

Die IntensitĂ€t der PP wirkt sich im gesamten Seevolumen aus. Die PP erfolgt im Epilimnion (OberflĂ€chenschicht), weil hier NĂ€hrstoffe und Licht vorhanden sind, die fĂŒr den Aufbau der Biomasse benötigt werden. Zooplankton bedient sich an dieser Biomasse, Bakterien bauen einen Teil des organischen Materials wieder ab und machen die NĂ€hrstoffe erneut verfĂŒgbar. Der Anteil des organischen Materials, der schliesslich ins Hypolimnion absinkt, wird als Netto-Ökosystemproduktion (engl: Net Ecosystem Production, NEP) definiert (Box). Es ist diese NEP, welche die O2-Zehrung im Hypolimnion der meisten Schweizer Seen prĂ€gt.
In diesem Artikel wird aufgezeigt, wie die NEP mit vergleichsweise wenig Aufwand aus Monitoring-Daten bestimmt werden kann. Die NEP stellt ein robustes Mass fĂŒr die Entwicklung der Trophie, des Phosphorhaushalts und der Sauerstoffzehrung eines Sees dar und unterliegt weniger starken Schwankungen als die PP, die nur ungenau und mit grossem Aufwand erfassbar ist. Momentaufnahmen der PP werden heute nur noch im Genfersee und in den beiden Becken des Luganersees gemessen. Die PP kann sehr kurzfristig – z. B. beim Vorbeiziehen einer Wolke – variieren. Monatliche oder zweiwöchentliche Messungen der PP mĂŒssen daher sorgfĂ€ltig auf ein ganzes Jahr hochgerechnet werden und erlauben erst ĂŒber lange ZeitrĂ€ume eine sinnvolle Interpretation. Auch der Versuch, die PP mittels Chlorophyll-a-Gehalt zu erfassen, ergibt nicht immer ein korrektes Abbild.
Im Folgenden wird dargestellt, wie aus kontinuierlichen Profilen der NĂ€hrstoffkonzentrationen von Phosphor (P) und Stickstoff (N) sowie des O2-Gehalts die NEP bestimmt werden kann. Diese Parameter werden ĂŒblicherweise in verschiedenen Schweizer Seen beim regulĂ€ren Monitoring gemessen. Damit bietet sich die Möglichkeit, die Entwicklung der NEP und somit der Trophie eines Sees zeitlich zu verfolgen.

Netto-Ökosystemproduktion (NEP)

PrimĂ€rproduktion (PP) ist die Assimilation von Kohlenstoff (C) aus der AtmosphĂ€re mittels Sonnenlicht durch Algen und Cyanobakterien, welche am Anfang der Nahrungskette stehen. Die Netto-Ökosystemproduktion (NEP) ist jene Menge der PP, die aus dem OberflĂ€chen- ins Tiefenwasser absinkt, nachdem schon in der produktiven Zone ein Teil durch Respiration (R) wieder abgebaut worden ist.

Netto-Ökosystemproduktion (NEP) = PrimĂ€rproduktion (PP) – Respiration (R)

Die Tiefe, die man als Übergang zwischen OberflĂ€chen- und Tiefenwasser festlegt, hat einen Einfluss auf die NEP, da auch in der produzierenden Schicht schon organisches Material abgebaut wird. Die sogenannte Kompensationstiefe kann zur Unterscheidung verwendet werden. Sie ist jene Tiefe, in der PP und R entgegengesetzt gleich gross sind. In diesem Artikel wurde zur Berechnung der NEP die Bilanz fĂŒr den Genfersee in 15 m Tiefe festgelegt (entspricht in etwa dem Epilimnion, basierend auf Temperaturprofilen). Wichtig fĂŒr die Vergleichbarkeit ist, dass fĂŒr einen bestimmten See von Jahr zu Jahr die gleiche Tiefe verwendet wird. FĂŒr die Bestimmung der PP (tiefenabhĂ€ngig oder integriert ĂŒber die produzierende Schicht) gibt es verschiedene Methoden, die nachfolgend vorgestellt werden. R im Epilimnion abzuschĂ€tzen wĂ€re extrem aufwendig und wurde bisher nicht realisiert. Die Berechnung der NEP mit dieser Formel ist somit nicht einfach möglich

METHODEN ZUR BESTIMMUNG VON PP UND NEP

FĂŒr die praktische Bestimmung von PP und NEP werden verschiedene Methoden verwendet, die hier nur kurz erwĂ€hnt werden, jedoch in der Arbeitshilfe [1] eingehender beschrieben sind.1 Bei der 14C-Methode werden Wasserproben in Glasflaschen mit markiertem Bikarbonat wĂ€hrend einiger Stunden im See inkubiert und danach die assimilierte Menge 14C bestimmt [2]. Die 13C-Methode macht sich die ungleiche Assimilationsgeschwindigkeit der natĂŒrlichen Isotope 12C und 13C zunutze, aus deren unterschiedlichem VerhĂ€ltnis im Wasser bzw. Plankton auf die Fotosyntheserate geschlossen werden kann [3]. Da bei der Fotosynthese O2 gebildet wird, kann mit der Tagesgang-Sauerstoffkurve (Diel-Methode) aus der integralen Tagesproduktion und Nachtkonsumation PP und R und aus deren Differenz die NEP berechnet werden [4]. Grosses Entwicklungspotenzial mit ersten Anwendungen hat die Nutzung von Fernerkundungsdaten der neuesten Sentinel-Satelliten. Sie erlauben die spektralanalytische Messung der Pigmentabsorption von Algen mit einer Auflösung von aktuell 300 m [5], woraus mit Modellen die PP bestimmt wird [6].
Beim Wachsen der Algen in der produktiven Zone und bei deren Export ins Hypolimnion wird auch eine zur NEP proportionale Menge P exportiert. Es ist daher möglich, anhand eines saisonalen NĂ€hrstoffbudgets des Epilimnions, z. B. P und N, die NEP zu berechnen. Dazu mĂŒssen auch die ĂŒber den Sommer ein- und ausgetragenen Frachten bekannt sein sowie das VerhĂ€ltnis C : P bzw. C : N, in welchem die Algen und Cyanobakterien die NĂ€hrstoffe einbauen. Anhand dieser Daten, der Dauer der produktiven Saison und der HypolimnionflĂ€che kann die durchschnittliche NEP pro m2 und Zeit berechnet werden. Allerdings sind zusĂ€tzlich zu den regelmĂ€ssigen Messungen aus dem Monitoring auch Analysen von C, P und N der organischen Partikel im Epilimnion nötig. Wie sich in den letzten Jahren bestĂ€tigt hat, verĂ€ndern sich die VerhĂ€ltnisse zwischen NĂ€hrstoffen, Biomasseproduktion und Stöchiometrie im Verlauf der Oligotrophierung [7], weshalb sie bei der Bestimmung der NEP berĂŒcksichtigt werden mĂŒssen.
Die NEP kann in direkter Weise auch mittels Sedimentfallen bestimmt werden, indem die Menge von absinkendem organischem Material pro FlĂ€che und Zeit unmittelbar unter der produktiven OberflĂ€chenschicht aufgefangen wird. Die sorgfĂ€ltige Wahl der Expositionstiefe und zeitgerechtes Leeren der Fallen sind wichtig, damit kein Material verpasst wird oder schon wĂ€hrend der Exposition mineralisiert. Zudem muss auf unerwĂŒnschte EintrĂ€ge von terrestrischem Material geachtet werden.
Zusammenfassend zeigt sich, dass die aktuell erprobten Methoden zur Bestimmung der PP aufwendig und oft wenig reprĂ€sentativ sind. Die NEP kann zudem nicht direkt aus der PP abgeleitet werden, weil keine genauen Angaben ĂŒber die Respiration im Epilimnion vorhanden sind. FĂŒr die Auswirkungen des P-Haushalts auf die Produktion und Respiration und somit fĂŒr die Sauerstoffzehrung im Hypolimnion ist aber die NEP die SchlĂŒsselgrösse. In einer kĂŒrzlich an der Eawag durchgefĂŒhrten Studie sind daher die seit vielen Jahren in den regulĂ€ren Monitoring-Programmen gemessenen O2-Konzentrationen nĂ€her analysiert worden [8, 9]. Auf diese Weise kann die NEP nicht nur aktuell, sondern auch zurĂŒckliegend berechnet werden. Aufbauend auf dem Artikel «Sauerstoffzehrung in Seen» [10] wird die Methode nachfolgend dargestellt. Eine ausfĂŒhrliche Arbeitshilfe dazu ist online verfĂŒgbar [1].

BESTIMMUNG DER NEP AUS MONITORING-DATEN

Beim antagonistischen Aufbau von organischem Material bei Tageslicht und stĂ€ndiger Mineralisation (Tag und Nacht) bleibt netto eine Menge organischen Materials ĂŒbrig, die aus der produktiven Zone aussedimentiert und entweder im Hypolimnion abgebaut oder im Sediment deponiert wird (Fig. 1). Aus O2-Messungen des regulĂ€ren Monitorings kann indirekt nachverfolgt werden, wie viel C im Hypolimnion abgebaut wurde. Die im Sediment eingelagerte Menge C wird in Sedimentkernen gemessen und spielt je nach Seetyp eine unterschiedlich wichtige Rolle. Im Folgenden werden diese Senken vorgestellt und die daraus abgeleitete Berechnung der NEP erklĂ€rt.

Abbau unter Sauerstoffzehrung (AHM)

Anhand der Zehrung des O2, die in direktem Zusammenhang mit dem Abbau des organischen Materials steht (Fig. 1), kann mit dem stöchiometrischen VerhĂ€ltnis zwischen O2 und C (von 138 : 106) die Menge an mineralisiertem organischem C berechnet werden. Ein Teil des see-internen C aus der NEP wird bereits beim Absinken in der WassersĂ€ule abgebaut (WCM) und als CO2 freigesetzt. Ein weiterer Teil wird unter O2-Zehrung an der SedimentoberflĂ€che mineralisiert (SOU). Herrschen im Tiefenwasser und am Sediment anoxische Bedingungen, wird organisches Material vermehrt ins Sediment eingelagert und dort langsam ohne O2 abgebaut. Dabei werden ĂŒber Jahrzehnte reduzierte Substanzen (RED) wie Methan und Ammonium, aber auch Eisen und Mangan freigesetzt. Sobald diese Substanzen mit O2 in BerĂŒhrung kommen, werden sie oxidiert und tragen somit – zeitlich verzögert – ebenfalls zur O2-Zehrung bei. RED gibt dort somit nicht die aktuelle Produktion wieder, sondern – als «Sediment-Altlast» – diejenige der Vergangenheit. In flachen Seen mit eutropher Vergangenheit ist der Anteil von RED an der O2-Zehrung auch heute noch hoch [10].
Auch eingeschwemmtes, see-externes organisches Material (BlĂ€tter, Äste, Humus etc.) trĂ€gt zur O2-Zehrung bei. Dieses ist meist schwerer abbaubar [11], sinkt oft rasch zum Grund, tritt mitunter in grossen Mengen auf und kann besonders in nĂ€hrstoffarmen Seen wesentlich zu RED beitragen.

Einlagerung ins Sediment (NS)

Nur ein kleiner Teil des see-internen organischen Materials der NEP wird langfristig im Sediment eingelagert (Netto-Sedimentation, NS). Seen mit grosser terrestrischer Fracht aus ZuflĂŒssen weisen generell hohe NS-Werte auf. Der terrestrische Beitrag an der gesamten organischen NS ist naturgemĂ€ss nur schwer abschĂ€tzbar. Im Folgenden wird die NS daher nur bei Seen berĂŒcksichtigt, die im Vergleich zur PP einen kleinen terrestrischen Input aufweisen und wo der Anteil NEP an der NS klar bestimmt werden kann.

Bestimmung der NEP

Die Zusammensetzung der fĂŒr die Bestimmung der NEP berĂŒcksichtigten Komponenten der C-Senken hĂ€ngt vom Seetyp ab (Fig. 2). Hat ein flacher See eine eutrophe Vergangenheit, ist das Sediment mit einer grossen Menge nicht-abgebautem organischem Material belastet, die nicht von der aktuellen Produktion stammt. Deshalb wird der Anteil RED von der AHM abgezogen (Typ 1). Ist in einem tiefen See die terrestrische Fracht hoch und kann die NS nicht zweifelsfrei bestimmt werden, wird auch dieser Anteil von der Berechnung ausgeschlossen (Typ 2). Ist ein See tief, mit wenig terrestrischem organischem Material und ohne Sediment-Altlast, so kann die aktuelle NEP vereinfacht als NEP = AHM + NS ausgedrĂŒckt werden (Typ 3) [9]. In der Figur 2 ist das Vorgehen fĂŒr diese drei Seetypen schematisch dargestellt und in der Arbeitshilfe [1] ausfĂŒhrlich erklĂ€rt.
Die aerobe Mineralisation von C folgt modellmÀssig den stöchiometrischen VerhÀltnissen:

Das C : O2-VerhĂ€ltnis entspricht demnach 106 : 138. Als Durchschnitt und um den Vergleich mit anderen Seen zu ermöglichen, wird die Dauer der produktiven Phase auf 180 Tage festgelegt. Umgerechnet in eine Produktionsrate pro FlĂ€cheneinheit ĂŒber 180 Tage ergibt dies (hier fĂŒr Typ 1):

Die Anteile RED (in g O2 m–2 Tag-1) und NS (in g C m–2 [180 Tage]–1) werden je nach Seetyp berĂŒcksichtigt. Die AHM kann vereinfacht anhand der Differenz zwischen dem maximalen O2-Gehalt im Hypolimnion nach der Winterzirkulation (etwa Ende MĂ€rz) und dem minimalen O2-Gehalt am Ende der produktiven Saison (Ende Oktober / Anfang November) abgeschĂ€tzt werden [12, 13]:

∆tstrat: Schichtungsdauer (in Tagen)
zH: mittlere Hypolimniontiefe (Hypolimnionvolumen dividiert durch HypolimnionflÀche in 15 m Tiefe)

Der von der AHM abzuziehende Anteil RED ist zwar individuell fĂŒr jeden See, verĂ€ndert sich aber im Verlauf der Zeit nur langsam [14]. Es ist daher möglich, die in den letzten Jahren durch Porenwasseranalysen ermittelten Werte [8, 9] noch fĂŒr viele Jahre zu verwenden, denn bis 2050 wird eine Abnahme der RED von nur ~10–15% erwartet. Neben den zur Berechnung der AHM nötigen langen Zeitreihen von O2-Profilen ist es daher ausreichend, einen reprĂ€sentativen Wert fĂŒr RED zu ermitteln.
Auch die durch see-internes Material verursachte NS verĂ€ndert sich erfahrungsgemĂ€ss nur sehr langsam. Generell ist dieser Anteil im Vergleich zur AHM klein. Ist der Wert aus Sedimentproben bekannt, sollte er in die Berechnung miteinbezogen werden. Ist der See stark von terrestrischer Fracht geprĂ€gt, so muss diese Komponente ausgeschlossen werden. Werte von RED und NS fĂŒr verschiedene Seen können in der Arbeitshilfe [1] nachgeschlagen werden. Ebenfalls in der Arbeitshilfe wird eine Typisierung vorgeschlagen, damit nachvollziehbar wird, wann NS und RED berĂŒcksichtigt oder vernachlĂ€ssigt werden sollen.

Beispiel Genfersee

Die Bestimmung der NEP wird hier am Beispiel des Genfersees (tief, geprÀgt von see-internem organischem Material) im Detail vorgestellt. GemÀss Figur 2 (Typ 3) wird die NEP als AHM + NS berechnet.

Bestimmung der AHM

O2-Profile sind im Genfersee seit Ende der 50er-Jahre verfĂŒgbar [15]. Anhand der Bathymetriedaten wird zunĂ€chst fĂŒr jedes Messdatum die volumengewichtete, mittlere O2-Konzentration im Hypolimnion (definiert als Tiefe >15 m; Fig. 3a) berechnet. FĂŒr jedes Jahr werden das Start- und das Enddatum der produktiven Saison individuell festgelegt. Im Hypolimnion tritt das O2-Maximum zwischen MĂ€rz und Mai auf, das O2-Minimum zwischen September und November. Die O2-Konzentration nimmt wĂ€hrend dieser produktiven Schichtungsphase zwischen Start- und Enddatum (Kreise in Fig. 3b) kontinuierlich ab.
Die mittlere Hypolimniontiefe zH betrĂ€gt im Genfersee 151 m, die Schichtungsperiode ∆tstrat ist jeweils die Anzahl Tage zwischen den gewĂ€hlten Start- und Enddaten. GemĂ€ss Gleichung (3) ergibt sich fĂŒr 1985 (Start: 22.04.1985, Ende: 04.11.1985):

Gleichermassen findet man fĂŒr 2012 (Start: 09.05.2012, Ende: 23.10.2012) eine AHM2012 von 1.60 g O2 m–2 Tag–1.

Bestimmung der NEP: AHM in C-Äquivalente konvertieren und NS addieren

Die NS fĂŒr den Genfersee wurde der Literatur entnommen und betrĂ€gt ĂŒber die produktive Saison ~5,5 g C m–2 (180 Tage)–1 [16]. Mit der Gleichung (2) kann die NEP wĂ€hrend der produktiven Phase fĂŒr jedes Jahr berechnet werden und betrĂ€gt fĂŒr das Beispiel 1985:

Analog dazu betrĂ€gt die NEP fĂŒr 2012 mit 88 g C m–2 (180 Tage)–1 fast doppelt so viel. Wie schon bei der zeitlichen Entwicklung der AHM ist auch fĂŒr die NEP seit den 1960er-Jahren kein Trend erkennbar (Fig. 4a und 4b). Diese Resultate können mit Sedimentfallenmessungen und den Bilanzen von P und N im Epilimnion ĂŒberprĂŒft werden. Sedimentdaten von 1993 und 2018 bestĂ€tigen, dass sich die NEP in den letzten Jahrzehnten kaum verĂ€ndert hat und auch die NĂ€hrstoffbilanzen der letzten 47 Jahre [9] zeigen eine gute Übereinstimmung mit der NEP in Figur 4b. Der P-Gehalt hat im Gegensatz dazu seit den 1980er-Jahren markant abgenommen (Fig. 4c).

DISKUSSION

Geeignete Seetypen

Die einfache Berechnung der NEP nach Gleichung (2) fĂŒhrt bei gewissen Seetypen unter UmstĂ€nden zu Über- oder UnterschĂ€tzung (Fig. 2). Der terrestrische und der aus der PP stammende organische C im See könnten analytisch nur mit sehr grossem Aufwand unterschieden werden. Dies zu vereinfachen, ist Gegenstand aktueller Forschung an der Eawag. Bei flachen Seen ist dies besonders problematisch, da der terrestrische C sowohl die NS als auch RED und SOU erhöht. Abgesehen von terrestrisch geprĂ€gten flachen Seen kann die Methode jedoch weitgehend angewendet werden.

Weitere Beispiele im Vergleich

Im Vergleich zum Genfersee sind sowohl der Brienzer- als auch der Baldeggersee zwei komplementĂ€re FĂ€lle. Der Baldeggersee ist flach, nĂ€hrstoffreich, belĂŒftet und hat eine hocheutrophe Vergangenheit. Diese widerspiegelt sich im hohen Anteil von RED, der deshalb nicht zur aktuellen NEP gehört und bei der Anwendung von Gleichung (2) von der AHM abgezogen wird. Die aktuelle NS ist vermutlich noch Ă€hnlich wie zur Zeit der Hocheutrophie und ihr Anteil wird deshalb dazugerechnet [9]. Der Baldeggersee entspricht dem Typ 1 in Figur 2. Der Brienzersee ist tief, nĂ€hrstoffarm und weist eine geringe PP auf. Er ist jedoch stark geprĂ€gt durch grosse Frachten von terrestrischem organischem Material. Damit entspricht er dem in Figur 2 charakterisierten Typ 2. Sedimentfallenmessungen haben gezeigt, dass dieser Eintrag fĂŒr die gesamte NS und daher auch fĂŒr RED verantwortlich ist (Fig. 5). Über lange ZeitrĂ€ume trĂ€gt ein Teil dieses externen Materials auch zur SOU bei, wodurch die berechnete NEP etwas ĂŒberschĂ€tzt wird [9].
Die vorgeschlagene Methode erweist sich bei beiden Seentypen als anwendbar: So hat zum einen die PP im Baldeggersee noch nicht messbar abgenommen und zum anderen werden im Brienzersee diejenigen NEP-Anteile, die nicht durch see-interne PP verursacht sind, von der Berechnung ausgeschlossen.
Der Bodensee weist eine sehr Ă€hnliche Entwicklung auf wie der im Detail diskutierte Genfersee. Er ist ebenfalls tief und erhĂ€lt eine geringe Fracht von terrestrischem organischem C, jedoch sind die P-Konzentrationen geringer als im Genfersee (Fig. 6). Die NEP im Bodensee liegt aktuell bei 56 g C m–2 (180 Tage)–1 [9]. Beide Seen entsprechen dem Typ 3 in Figur 2.

SCHLUSSFOLGERUNGEN UND AUSBLICK

FĂŒr die IntensitĂ€t der Prozesse im Hypolimnion eines Sees ist nicht so sehr die PrimĂ€rproduktion (PP) von Biomasse wichtig, sondern vor allem jener Anteil, der letztlich aus der produktiven Zone ins Hypolimnion absinkt. Mehr als die schwer messbare PP ist daher die Netto-Ökosystemproduktion (NEP) direkt massgebend fĂŒr die Sauerstoffzehrung, fĂŒr die Ablagerung von organischem Kohlenstoff in den Sedimenten und fĂŒr die NĂ€hrstoffkreislĂ€ufe (Elimination von Stickstoff durch Denitrifikation, Ablagerung von Phosphor). Anstelle der PP, fĂŒr welche die Langzeitdaten meist fehlen, kann mit der NEP die trophische Entwicklung eines Sees ĂŒber lĂ€ngere Zeit zurĂŒckverfolgt und daher auch langsame VerĂ€nderungen erkannt werden. Die vorgestellte Methode erlaubt es, anhand von Daten der regulĂ€ren Monitoring-Programme mit wenig Aufwand die NEP eines Sees zu bestimmen. Dabei erhĂ€lt man einen integrierten Wert ĂŒber die gesamte produktive Saison ohne feinere zeitliche Auflösung. Obwohl die NEP in manchen Seen etwas unter- oder ĂŒberschĂ€tzt werden kann, erlaubt sie, die zeitliche Entwicklung ĂŒber Jahre robust zu dokumentieren. Es wird somit ersichtlich, ob die NEP und damit auch die PP lĂ€ngerfristig abnimmt und Oligotrophierung stattfindet, wie viel zur angestrebten «mittleren Produktion» noch fehlt oder ob trotz abnehmendem NĂ€hrstoffgehalt keine Abnahme der PP zu erkennen ist. Die Analyse zeigt beispielsweise, dass der Baldeggersee nach wie vor eine maximale PP aufweist, wĂ€hrend beim Genfersee erst ein geringer und beim Bodensee ein deutlicher RĂŒckgang der PrimĂ€rproduktion zu erkennen ist. Die NEP ergĂ€nzt und erweitert die Information aus der Sauerstoffzehrung im Hypolimnion (AHM), indem sie die Produktion auf die Basis von Kohlenstoff stellt und dabei die Speicher bzw. Quellen von Sediment und see-externen EinflĂŒssen miteinbezieht. Dadurch werden unterschiedliche Seen miteinander vergleichbar und der Erfolg der Anstrengungen des GewĂ€sserschutzes in den Einzugsgebieten sichtbar. NĂ€hrstoffbilanzen ermöglichen einen unabhĂ€ngigen PlausibilitĂ€tscheck der berechneten NEP, jedoch ist die Bestimmung aus den O2-Zehrungsdaten in den meisten FĂ€llen genauer und einfacher. Bei grosser Diskrepanz zwischen den verschiedenen Berechnungsmethoden kann der Grund fĂŒr die Differenz eine Hilfe fĂŒr FehlerabschĂ€tzungen sein oder um ungenĂŒgende Informationen ĂŒber Frachten zu erkennen. Die Anleitung zur Berechnung aller in diesem Artikel vorgestellten Methoden sowie der tolerierbaren Werte von NEP, AHM und Phosphoreintrag fĂŒr einen individuellen See kann der Arbeitshilfe [1] entnommen werden.

Bibliographie

[1] Kiefer, I.; MĂŒller, B.; WĂŒest, A. (2021): Anleitung zur Analyse von Sauerstoffzehrung und Netto-Ökosystemproduktion (2021). Arbeitshilfe zur Ermittlung relevanter Grössen der Trophie von Seen, Eawag und EPFL
[2] Marra, J. (2009): Net and gross productivity: weighing in with 14C. Aquatic Microbial Ecology 56, 123–131
[3] Slawyk, G.; Collos, Y.; Auclair, J-C. (1977): The use of the 13C and 15N isotopes for the simultaneous measurement of carbon and nitrogen turnover rates in marine phytoplankton, Limnol. Oceanogr. 22(5), 925–932
[4] Brothers, S. et al. (2017): Convective mixing and high littoral production established systematic errors in the diel oxygen curves of a shallow, eutrophic lake. Limnol. Oceanogr.: Methods 15, 429–435
[5] Odermatt, D. et al. (2012): Review of constituent retrieval in optically deep and complex waters from satellite imagery. Remote Sens Environ. 118, 116–126
[6] Soomets, T. et al. (2019): Spatial and temporal changes of primary production in a deep peri-alpine lake. Inland Waters 9(1), 49–60
[7] MĂŒller, B. et al. (2021): Increasing carbon-to-phosphorus ratio (C:P) from seston as a prime indicator for the initiation of lake reoligotrophication, im Druk, Environ. Sci. Technol.
[8] Steinsberger, T. et al. (2020): Hypolimnetic oxygen depletion rates in deep lakes: Effects of trophic state and organic matter accumulation. Limnol. Oceanogr. 65(12), 2020, 3128–3138
[9] Steinsberger, T.; WĂŒest, A.; MĂŒller, B. (2021): Net ecosystem production of lakes estimated from hypolimnetic organic carbon sinks, eingereicht bei Water Resources Research
[10] Kiefer, I. et al. (2020): Sauerstoffzehrung in Seen, Aqua & Gas N°7/8, 62–70
[11] Meyers, P.A.; Eadie, B.J. (1993): Sources, degradation and recycling of organic matter associated with sinking particles in Lake Michigan. Org. Geochem. 20(1), 47–56
[12] Matzinger, A. et al. (2010): Hypolimnetic oxygen consumption by sediment-based reduced substances in former eutrophic lakes. Limnol. Oceanogr. 55 (5), 2073–2084
[13] MĂŒller, B. et al. (2012): Hypolimnetic oxygen depletion in eutrophic lakes. Environ. Sci. Technol. 46(18), 9964–9971
[14] Steinsberger, T. et al. (2019): Modeling sediment oxygen demand in a highly productive lake under various trophic scenarios. PLoS ONE 14(10): e0222318
[15] Rimet, F. et al. (2020): The Observatory on LAkes (OLA) database: Sixty years of environmental data accessible to the public. Journal of Limnology 79(2), 164–178
[16] Steinsberger, T. et al. (2017): Organic carbon mass accumulation rate regulates the flux of reduced substances from the sediments of deep lakes. Biogeosciences 14(13), 3275–3285
[17] Rapin, F.; Gerdeaux, D. (2013): La protection du LĂ©man, prioritĂ© Ă  la lutte contre l’eutrophisation. Arch.Sci. 66, 103–116

Dank

Dieser Artikel wurde im Rahmen des vom BAFU finanzierten Projekts «PrimĂ€rproduktion der Seen unter Oligotrophierung: Verfahren zur Erhebung des Produktionsstatus basierend auf Routineuntersuchungen und öffentlich zugĂ€nglichen Daten (Trophie-Status)» erstellt. Forschungsarbeiten wurden vom Schweizerischen Nationalfonds (Projekte: 200021_146652, 200020_165517 und 200021_146234) unterstĂŒtzt. Wir bedanken uns zudem herzlich bei den kantonalen UmweltĂ€mtern (AfU Freiburg; Amt fĂŒr Landwirtschaft und Umwelt Obwalden; Amt fĂŒr Umwelt Nidwalden; Amt fĂŒr Umweltschutz Schwyz; Amt fĂŒr Wasser und Energie St. Gallen; Amt fĂŒr Umwelt Zug; AWA Bern; AWEL ZĂŒrich; Departement Bau, Verkehr und Umwelt Aargau; DGE Vaud; Service de l’énergie et de l’environnement NeuchĂątel; uwe Luzern), bei der IGKB Langenargen, der CIPAIS, der CIPEL (mit Informationssystem Observatory of alpine LAkes (OLA), © SOERE OLA-IS, AnaEE-France, INRA in Thonon-les-Bains, CIPL) sowie dem BAFU fĂŒr die jahrzehntelange DurchfĂŒhrung unzĂ€hliger Messungen in den Schweizer Seen und die daraus zur VerfĂŒgung gestellten wertvollen DatensĂ€tze.

Kommentar erfassen

Kommentare (0)

e-Paper

«AQUA & GAS» gibt es auch als E-Paper. Abonnenten, SVGW- und/oder VSA-Mitglieder haben Zugang zu allen Ausgaben von A&G.

Den «Wasserspiegel» gibt es auch als E-Paper. Im SVGW-Shop sind sämtliche bisher erschienenen Ausgaben frei zugänglich.

Die «gazette» gibt es auch als E-Paper. Sämtliche bisher erschienen Ausgaben sind frei zugänglich.