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Fachartikel
05. Juni 2023

Forschungsprojekt «SeeWandel»

Ökosystemforschung am Bodensee

Während fünfeinhalb Jahren untersuchten Forschende aus den drei Bodenseeländern den Einfluss und die Wechselwirkung verschiedener Stressfaktoren wie Nährstoffänderungen, invasive Arten und Klimawandel auf das Ökosystem des Sees. Der aktuelle Wandel ist tiefgreifend und mit voraussichtlich weitreichenden Folgen für das komplexe Ökosystemgefüge und die Gewässernutzenden. Am 13. und 14. Juni 2023 schliesst das Projekt mit einem wissenschaftlichen Symposium und einer Informationsveranstaltung für die Praxis ab.
Josephine Alexander, Markus Möst, Dietmar Straile, Harald Hetzenauer, Piet Spaak, 

Wie der Projektname andeutet, widmet sich «SeeWandel» den Folgen der Änderungen, die der Bodensee durchlief und die in neuerer Zeit im See zu beobachten sind. Zu nennen sind hier insbesondere die hohen Nährstoffeinträge während der Eutrophierung, klimatische Veränderungen und invasive Arten – alles Faktoren, die die Zusammensetzung der Lebensgemeinschaft im Bodensee verändern, mit möglichen Auswirkungen auf die Funktionsweise und die Leistungen des Ökosystems. Den Anstoss zum Forschungsprojekt gab die Internationale Gewässerschutzkommission für den Bodensee (IGKB) [1]. Im Vordergrund standen zunächst Untersuchungen zur Resilienz (s. Box): Wie reagiert der Bodensee auf sich ändernde Umweltbedingungen (v. a. Nährstoffänderungen)? Bewegt sich das Ökosystem wieder zurück zum ursprünglichen Zustand? Oder hat es sich bleibend geändert? Der Fokus weitete sich aus, weitere Forschende und Partnerinstitutionen wurden gewonnen und mithilfe von Interreg1 konnte das breit angelegte Forschungsprogramm letztlich am Bodensee realisiert werden [1].

Seit 2018 untersuchen Forschende von sieben Institutionen2 aus drei Ländern (Deutschland, Schweiz, Österreich) die Auswirkungen und die Bedeutung sowie die Wechselwirkungen insbesondere von Nährstoffrückgang (Re-Oligotro­phierung), invasiven und gebietsfremden Arten und Klimawandel auf das Ökosystem Bodensee, seine Biodiversität und Funktionsweise sowie die menschliche Nutzung am See.

13 Teilprojekte umfasst das Forschungsvorhaben, ein breites Methodenspektrum kommt zur Anwendung, teilweise werden Ergebnisse und Erkenntnisse aus anderen Seen (z. B. Zürichsee) herangezogen. Das Nahrungsnetz betreffend, schliessen die Betrachtungen Primärproduzenten (z. B. Phytoplankton, Wasserpflanzen) und -konsumenten (z. B. Zooplankton) sowie Sekundärkonsumenten (z. B. Fische) ein. Viele der Untersuchungen haben Praxisrelevanz (u. a. im Hinblick auf Trinkwasserversorgung, Fischerei, Tourismus). Grenzüberschreitendem Austausch mit Stakeholdern, lokalen Behörden und Verwaltungen sowie Wissenstransfer wird eine grosse Bedeutung beigemessen.

1 Interreg, das Regionalprogramm der Europäischen Union zur Förderung der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit, an dem sich auch Nicht-EU-Staaten beteiligen können, finanzierte 53% des SeeWandel-Projektbudgets (www.interreg.org).

2 Am Projekt beteiligt sind: Universität Hohenheim, Universität Innsbruck, Universität Konstanz, Universität Zürich, Fischereiforschungsstelle Baden-Württemberg (FFS-LAZBW), Institut für Seenforschung (LUBW-ISF) und die Eawag: das Wasserforschungsinstitut des ETH-Bereichs.

 

WIE VERÄNDERT SICH DAS ÖKOSYSTEM BODENSEE?

Klare Vorhersagen ohne Unsicherheiten zu treffen ist schwierig, denn die direkten und indirekten Wechselwirkungen und kausalen Zusammenhänge im komplexen Ökosystem und einen so grossen See wie den Bodensee ganzheitlich zu verstehen ist eine Herausforderung. Einige Auswirkungen von extremen Ereignissen o. Ä. machen sich erst mit einer zeitlichen Verzögerung bemerkbar. Andere Änderungen vollziehen sich so schnell, dass es selbst Fachkundige überrascht.

Nährstoffänderungen

Nach erfolgreichen Sanierungsmassnahmen wird der Bodensee-Obersee laut Wasserrahmenrichtlinie als nährstoff­armer (oligotropher) See im guten ökologischen Zustand eingestuft [6]. In Bezug auf Nährstoffverhältnisse kann der aktuelle Zustand als stabil bewertet werden (s. hingegen «Klimabedingte Veränderungen»), jedoch nicht die Veränderungen in der Lebensgemeinschaft und damit einhergehende Veränderungen des Ökosystems. Die Angleichung von Lebensräumen in Ökosystemen z. B. durch Eutrophierung kann zur Vermischung (Hybridisierung und Genfluss) von Arten führen und Verlust von Biodiversität und ökologischer Struktur zur Folge haben. Dies schliesst den Verlust genetischer Vielfalt und Differenzierung, ökologischer Spezialisierung sowie Funktion und Fitness von Organismen ein. Es gibt jedoch Unterschiede, wie Organismengruppen auf Nährstoffänderungen reagieren. Beispielsweise zeigen Kieselalgengemeinschaften (Diatomeen) aus Sedimentkernen des Bodensees ein hohes Mass an Erholung nach der ­Eutrophierung [7]. An nährstoffarme Bedingungen angepasste Diatomeenarten (wie z. B. Cyclotella cyclopuncta) wurden während der Eutrophierung von Arten ersetzt, die an nährstoffreiche Bedingungen angepasst sind (wie Stephanodiscus minutulus oder Asterionella formosa). Durch die Sanierungsmassnahmen wurde diese Entwicklung umgekehrt, mit der Konsequenz, dass im heutigen Bodensee wieder an nährstoffarme Bedingungen angepasste Arten dominieren.

Uferzonen

Eine ähnliche Resilienz zeigt sich bei Wasserpflanzen. Im Zuge der Re-Oligotrophierung nahmen deren Wiederansiedelung (inkl. ganz und annähernd verschwundene Arten, wie viele Armleuchteralgen und Schweizer Laichkraut [8, 9]), Bewuchs und die Ausdehnung der bewachsenen Flächen in der Uferzone (Litoral) des Bodensees deutlich zu. Dies geht dennoch mit Änderungen der Arten- und Häufigkeitszusammensetzung einher. Hochwachsende Wasserpflanzen (v. a. breitblättrige Arten) sind in den letzten Jahrzehnten stark zurückgegangen und werden durch kleinwüchsige (v. a. Armleuchteralgen) ersetzt (Gunnar Franke et al., unveröffentlichte Daten). Zudem dehnen sich die Bestände aufgrund der zunehmenden Wassertransparenz in tiefere Bereiche aus. Ein Trend, der aufgrund der seit 2016 im Bodensee auftretenden gebietsfremden Quaggamuschel (Dreissena rostriformis) verstärkt werden und zudem Armleuchteralgen weiter begünstigen könnte [10, 11]. Die im Litoral lebenden Fischgemeinschaften waren im Zeitraum 1997–2014 widerstandsfähig gegenüber sinkenden Nährstoffgehalten (basierend auf Fang pro Einheitsaufwand, CPUE) [12]. Jedoch änderte sich die Artenzusammensetzung: Brachse, Quappe und Kaulbarsch nahmen ab, wohingegen Arten wie Hasel und Barsch zunahmen [12]. Vor allem Letzterer dürfte von den Veränderungen der Wasserpflanzengemeinschaft profitiert haben. Dies könnte auch auf andere Arten, wie z. B. Rotaugen und Stichlinge zutreffen.

Wasserflöhe

Bei den Wasserflöhen – Teil des Zooplanktons und wichtige Nahrungsquelle für Fische, insbesondere Felchen – konnte sich während der Eutrophierung eine zweite Daphnienart, Daphnia galeata, im Bodensee-Obersee etablieren. Letztere hybridisierte mit der im Bodensee ansässigen, an nährstoffarme Bedingungen angepassten D. longispina, konnte hohe Dichten erzielen und sich an die höhere Konzen­tration von toxischen Blaualgen im eutrophen Bodensee evolutiv anpassen [13]. Diese Veränderungen kehrten sich mit der Re-Oligotrophie­rung teilweise wieder um: D. galeata verlor wieder die Fähigkeit, auch bei hohen Blaualgenkonzentrationen schneller zu wachsen [13]. D. longispina wurde infolge der Reduktion der Nährstoffe – bis zur Einwanderung des Stichlings in die Freiwasserzone (s. nächster Absatz) – wieder zur dominierenden Daphnienart [14], unterscheidet sich aber genetisch von der ursprünglich im Bodensee vorhandenen Population (Tania Holtzem et al., unveröffentlichte Daten). Die Daphnien zeigen somit eine gewisse Resilienz, auch wenn sich durch Vermischung des Erbgutes die Populationsstruktur geändert hat.

Neben Nährstoffverhältnissen wird die Artenzusammensetzung des Zooplanktons auch stark vom Frassdruck durch Fische bestimmt. Von Fischen bevorzugte Arten nehmen in ihrer Häufigkeit ab, wovon kleinere Arten profitieren können [15, 16]. Längenvermessungen an Wasserflohüberresten aus Sedimentkernen zeigen, dass derzeit die Wasserflöhe kleiner sind als zu irgendeinem anderen Zeitpunkt während der letzten 100 Jahre. Dies suggeriert, dass der aktuelle Fischfrassdruck auf die Wasserflöhe so hoch ist wie nie zuvor in diesem Zeitraum (Dietmar Straile et al., unveröffentlichte Daten). Seit 2016 kann sich in den Sommermonaten mit D. cucullata eine kleine Wasserflohart, die typisch für eutrophe Gewässer ist, im Bodensee durchsetzen [17] (Fig. 4).

Fische

Die oben genannten Phänomene werden mit dem massiven Frassdruck des ins Freiwasser (Pelagial) des Bodensees eingewanderten gebietsfremden Dreistachligen Stichlings (Gasterosteus aculeatus) in Zusammenhang gebracht. Dieser breitet sich dort seit 2013 massiv aus, die hohen Bestandsdichten im Freiwasser sind persistent [18, 19].

Einige Arten, wie der an grosse Wassertiefen (Profundal, Tiefenzone) angepasste Kilch (Coregonus gutturosus), sind während der Eutrophierung ausgestorben. Mithilfe neuer genomischer Methoden konnte nachgewiesen werden, dass 28% seines Erbgutes in den drei rezenten Felchenarten des Bodensees erhalten geblieben ist, diese aber trotz der Eutrophierung genetisch verschieden sind [20]. Die teilweise Vermischung des Erbgutes und insbesondere das Überdauern des Kilch­erbgutes in den anderen Felchenarten könnte somit die Wiederbesiedlung des Profundals durch die Felchen begünstigen [21].

Klimabedingte Veränderungen

Neben Auswirkungen von Nährstoffänderungen sind klimabedingte Veränderungen in Seen vielfältig. Im Bodensee setzt mit der früher einsetzenden jahreszeitlichen Erwärmung des Wassers die Frühjahrsblüte des Phytoplanktons tendenziell früher ein. Auch beim Zooplankton werden Veränderungen im jahreszeitlichen Auftreten und ein Anstieg bei den Wachstumsraten einzelner Arten beobachtet. Steigende Temperaturen erhöhen zudem das Risiko mehrerer aufeinanderfolgender Jahre schwacher Durchmischungen, wie sie auch in jüngerer Zeit für den Bodensee aufgezeigt wurden [17]. Dies hat u. a. zur Folge, dass das Tiefenwasser weniger mit Sauerstoff versorgt wird, mit Konsequenzen für die dort vorkommenden Arten. Extremwetterereignisse wie Winterstürme und Hochwasserereignisse können kurzfristige und unerwartete Nährstoffeinträge nach sich ziehen, welche wiederum kaum vorhersagbare Massenentwicklungen von Primärproduzenten (Cyanobakterien und Algen) begünstigen können. Dies betrifft auch die Burgunderblutalge (Planktothrix rubescens), ein toxinbildendes Cyanobakterium, auch wenn eine Entwicklung hin zur Problemart im Bodensee derzeit als unwahrscheinlich gilt [22, 23].

Auch bei den Fischen zeigen sich erste Anzeichen von durch den Klimawandel bedingten Änderungen in der Artenzusammensetzung, wie beispielsweise der Rückgang der Kaltwasserfische Quappe und Felchen im Litoral [12]. Es ist zu erwarten, dass mit dem Rückgang sensi­bler Arten in Zukunft temperatur- und sauerstofftolerante Arten einen grösseren Anteil ausmachen werden. Dies zeigt sich bereits mit der Zunahme der Welsbestände im Bodensee [19]. Es ist zudem zu befürchten, dass der durch die Re-Oligotrophierung eingeleitete Rückgang der Fischdichte und -biomasse im Bodensee sich durch weitere Faktoren fortsetzt. Dies schliesst auch die direkten und indirekten Auswirkungen der gebietsfremden Arten Stichling und Quaggamuschel auf das Nahrungsnetz und Ökosystem ein. Eine Rückkehr zu einem Zustand ohne gebietsfremde Arten ist im Bodensee nicht möglich. Jedoch gibt es Beispiele für frühere Invasionen im Bodensee, bei welchen die eingewanderten Arten mit der Zeit in gewisser Weise in das System integriert wurden und keine tiefgreifenden Probleme mehr verursachen (z. B. Zebramuschel Dreissena polymorpha, Wasserpest Elodea). Ein wichtiges Managementziel sollte dennoch sein, die Einschleppung weiterer gebietsfremder Arten, wie z. B. der Schwarzmundgrundel, zu verhindern.

Einige wichtige Aspekte im komplexen Ökosystemgefüge, wie der Kormoran, waren nicht Teil der SeeWandel-Untersuchungen. Dessen vielfach diskutierter Einfluss auf fischereiwirtschaftlich relevante Fischbestände sowie andere, stark im Rückgang begriffene Fischarten wie Äsche, aber auch dessen möglicherweise regulierende Funktion als Top-Prädator (auch für Stichlinge und Quaggamuschel-fressende Fische) gilt es auch in der Zukunft weiter zu untersuchen [24].

ZIELGRUPPENORIENTIERTER WISSENSTRANSFER

Themen wie die rasante Ausbreitung der gebietsfremden Arten Quaggamuschel und Stichling, Algenblüten, die Auswirkungen des Nährstoffrückgangs und des Klimawandels, Rückgang der Fischereierträge und insbesondere der aktuelle drastische Einbruch der Bodenseefelchen beschäftigen Medien und Nutzende aller Anrainerstaaten rund um den See. Das Projekt versucht, die vielfachen Anfragen fortlaufend zu beantworten. Neben der Medienarbeit erfolgt fortlaufender zielgruppenorientierter Wissenstransfer über die Veröffentlichung wissenschaftlicher Fachartikel, Faktenblätter zu ausgewählten Themen und Berichte, welche verschiedene Forschungsaspekte zusammenführen, zentrale Leitfragen adressieren oder einzelne Themenbereiche weiter vertiefen (seewandel.org/publikationen). Ein zentrales Anliegen in SeeWandel ist der Erfahrungsaustausch mit Fachpersonen von Behörden und Verwaltungen sowie der Wissenstransfer in die Praxis, der – neben den bereits aufgeführten Wegen – in Form von Gesprächsforen (z. B. Dialogforum See und Fisch) und durch die Einbettung des Projekts in bestehende internationale Strukturen (z. B. Internationale Gewässerschutzkommission für den Bodensee (IGKB) und Internationale Bevollmächtigtenkonferenz für die Bodenseefischerei (IBKF) gewährleistet wird.

Zudem war SeeWandel Teil der Ausstellung an der Landesgartenschau in Überlingen im September 2021. Besuchenden war es möglich, mit am Projekt beteiligten Forschenden ins Gespräch zu kommen und mehr über ihre Arbeit zu erfahren. Im Rückblick lässt sich festhalten, dass auch solche Formen der Öffentlichkeitsarbeit zur Sensibilisierung der Bevölkerung für aktuelle Herausforderungen im Bodensee und anderen Seeökosystemen beitragen. Dies wiederum kann zu einem gesellschaftlichen Wandel im Umgang mit Umweltthemen beitragen.

MONITORING IST ESSENZIELL

Um die Funktionsweise eines Ökosystems vollumfänglich verstehen zu können, ist Forschung und Monitoring über längere Zeiträume unerlässlich. Letzteres auch, um die Dynamik des Ökosystems aufzuzeigen und zu verstehen, welche Prozesse und Faktoren die Resilienz des Systems bestimmen. Dass der Bodensee einer der am besten untersuchten Modellseen mit guter Langzeitdatenlage ist, war ein glücklicher Umstand für SeeWandel. Für zukünftige Untersuchungen ist es somit essenziell, dass regelmässige Erhebungen fortgeführt, aber auch entsprechend den aktuellen Änderungen angepasst und erweitert werden. SeeWandel hat nicht nur eine fundierte Datengrundlage geschaffen, von der Entscheidungstragende und auch zukünftige Projekte profitieren können, sondern auch zusätzliche Verfahren für regelmässige Erhebungen entwickelt und bereitgestellt (u. a. wissenschaftlich fundiertes Monitoring von Quaggamuscheln [10], fischökologisches Monitoring [25], Erweiterung Zooplankton-Monitoring [26]). Insbesondere vor dem Hintergrund der genannten Einflüsse und Wechselwirkungen von Klimaänderungen und invasiven Arten ist die Fortführung dieser Untersuchungen essenziell, um Dynamiken im komplexen Ökosystemgefüge verstehen zu können. Zudem profitieren solche Untersuchungen von der ganzheitlichen Betrachtung aus verschiedenen Blickwinkeln. Dies bedarf gewisser Strukturen, die Erfahrungsaustausch und Wissenstransfer zwischen verschiedenen Akteuren ermöglichen und gewährleisten. Diese Brücke zu schlagen wurde in SeeWandel versucht. So wurden erste Grundsteine gelegt für ein Netzwerk, das – wenn weiter gepflegt – eine Basis für wissenschaftlich fundiertes Gewässermanagement von grösseren Seen schaffen kann.

WIE GEHT ES WEITER?

Dass sich das Ökosystem Bodensee verändert hat, ist unumstritten. Der See wird sich jedoch in seiner Funktionsweise den neuen Gegebenheiten anpassen. Die Quaggamuschel und der Stichling werden möglicherweise dauerhaft bleiben, es ist zu erwarten, dass weitere gebietsfremde Arten einwandern, teilweise gefördert durch den Klimawandel. Letzterer wird auch die einheimischen Arten des Bodensees sowie die Ökosystemfunktionen beeinflussen. Was dies in seiner Komplexität letztlich für die Seenutzenden bedeutet, lässt sich nur schwer prognostizieren. Genau hier versucht ein neues Interreg-Forschungsprojekt anzusetzen, das – wenn genehmigt – ab 2024 die Folgen des Klimawandels und invasiver Arten für das Ökosystem Bodensee und dessen Nutzung abschätzen möchte. Diese beiden Faktoren gehören zu den absehbar grössten Herausforderungen für das Handeln der internationalen Gemeinschaft in Bezug auf den ganzheitlichen Schutz des Bodensees bei gleichzeitiger Nutzung unterschiedlicher Interessensgruppen. Bisher erhobene Daten in Kombination mit neuen Daten ermöglichen, die Veränderungen im Nahrungsnetz insbesondere unter Berücksichtigung der Wechselwirkung mit Klimaänderungen zu erforschen. Die Daten sollen in Simulationsmodelle einfliessen, welche die sich ändernde Biologie und Ökologie des Sees für Jahrzehnte prognostizieren und zur Umsetzung eines integralen Managements und Schutzes beitragen können. Doch nicht nur das Ökosystem muss sich anpassen. Auch die Seenutzenden sollten offen für Veränderung sein, um einen nachhaltigen und verantwortungsvollen Umgang mit den vielfältigen Ressourcen und Ökosystemleistungen, die uns der Bodensee bietet, zukünftig zu gewährleisten. Dafür braucht es fortlaufenden Erfahrungsaustausch und Wissenstransfer, für welchen die enge und grenzübergreifende Verflechtung von Forschung, Privatwirtschaft, Behörden und Entscheidungstragenden eine wertvolle Grund­lage bildet. Mit solch einem Netzwerk kann aktuellen Herausforderungen im Bodensee und in vergleichbaren Seen zeitnah begegnet werden.

Weiterführende Informationen
www.seewandel.org

Bibliographie

[1] Bucheli, M. (2021): Interview – Piet Spaak: «Das Ökosystem Bodensee mit seinen Prozessen und Funktionen umfassend verstehen». Aqua & Gas 4: 10–13
[2] Hodgson, D. et al. (2015): What do you mean, ‘resilient’? Trends Ecol. Evol. 30(9): 503–506
[3] Holling, C.S. (1973): Resilience and stability of ecological systems. Annu. Rev. Ecol. Syst. 4(1): 1–23
[4] Grimm, V.; Wissel, C. (1997): Babel, or the ecological stability discussions: an inventory and analysis of terminology and a guide for avoiding confusion. Oecologia. 109: 323–334
[5] Pimm, S.L. (1984): The complexity and stability of ecosystems. Nature. 307(5949): 321–326
[6] https://www.igkb.org/aktuelles/bodensee-wasser-informationssystem-bowis/europaeische-wasserrahmenrichtlinie-wrrl/
[7] Milan, M. et al. (2022): Clockwise hysteresis of diatoms in response to nutrient dynamics during eutrophication and recovery. Limnol. Oceanogr. 67(9): 2088–2100
[8] Schmieder, K. et al. (2021): Water level changes in Lake Constance and their relationship to changes in macrophyte settlement in the outflows of Lake Constance Upper and Lower Lake. Limnologica. 87: 1–11
[9] Schmieder, K. et al. (2021): Stauen Wasserpflanzen den Bodensee? Ausbreitung des einst fast verschwundenen Schweizer Laichkrauts in den Ausflussbereichen. Aqua & Gas 7/8: 86–92
[10] Spaak, P. et al. (2023): Quaggamuscheln bedrohen voralpine Seen – Grundlegende Veränderungen der Seen möglich. Aqua & Gas 6: 60-65
[11] Haltiner, L. et al. (2021): Die gebietsfremde Quaggamuschel erobert den Bodensee – drohen massive Folgen für das Ökosystem? SeeWandel Faktenblatt No. 02
[12] Sabel, M. et al. (2020): Long-term changes in littoral fish community structure and resilience of total catch to re-oligotrophication in a large, peri-alpine European lake. Freshw. Biol. 65(8): 1325–1336
[13] Isanta-Navarro, J. et al. (2021): Reversed evolution of grazer resistance to cyanobacteria. Nat. Commun. 12(1): 1945
[14] Straile, D. (2015): Zooplankton biomass dynamics in oligotrophic versus eutrophic conditions: a test of the PEG model. Freshw. Biol. 60(1): 174–183
[15] Ogorelec, Ž. et al. (2022): Can young-of-the-year invasive fish keep up with young-of-the-year native fish? A comparison of feeding rates between invasive sticklebacks and whitefish. Ecol. Evol. 12(1): e8486
[16] Ogorelec, Ž. et al. (2022): Small but voracious: invasive generalist consumes more zooplankton in winter than native planktivore. NeoBiota. 78: 71–97
[17] IGKB (2022): Jahresbericht der Internationalen Gewässerschutzkommission für den Bodensee: Limnologischer Zustand des Bodensees Nr. 44 (2020–2021)
[18] Alexander, T.J. et al. (2016): Artenvielfalt und Zusammensetzung der Fischpopulation im Bodensee. Projet Lac, Eawag. Kastanienbaum
[19] Bader, S. et al. (2021): SeeWandel Projekt L12 –Entwicklung und Anwendung einer Methode zur Erfassung der Fischbestände im Bodensee – Bericht für die IBKF. SeeWandel, LAZBW. Langenargen
[20] Frei, D. et al. (2022): Genomic variation from an extinct species is retained in the extant radiation following speciation reversal. Nature Ecol. Evol. 6(4): 461–468
[21] Frei, D. et al. (2022): Introgression from extinct species facilitates adaptation to its vacated niche. Mol. Ecol. 32(4): 841–853
[22] Knapp, D.; Posch, T. (2021): Burgunderblutalge im Zürichsee: Populationsdynamik und Einfluss des Klimawandels. Aqua & Gas 4: 14–21
[23] Knapp, D. et al. (2021): Die Burgunderblutalge im Bodensee – dominierende Bewohnerin oder seltener Gast? SeeWandel Faktenblatt No. 01
[24] HYDRA; B1CON (2022): Vorstudie für ein mögliches Kormoranmanagement am Bodensee – Einfluss des Kormorans am Bodensee auf Fischbestände, Fischarten und fischereilichen Ertrag in Relation zu anderen Wirkfaktoren als Grundlage für eine ergebnisoffene Beurteilung der Notwendigkeit eines Kormoranmanagements. Studie im Auftrag des Landwirtschaftlichen Zentrums fur Rinderhaltung, Grünlandwirtschaft, Milchwirtschaft, Wild und Fischerei Baden-Württemberg (LAZBW)
[25] Bader, S. et al. (2023): SeeWandel Projekt L12: Entwicklung und Anwendung einer Methode zur Erfassung der Fischbestände im Bodensee. Darstellung der Fangergebnisse 2019 und Erarbeitung eines zukünftigen Monitorings. Abschlussbericht Projekt SeeWandel: Leben im Bodensee – gestern, heute und morgen
[26] Dröscher, I. et al. (2022): DNA-Metabarcoding des Zooplanktons: Einsatz moderner molekularbiologischer Monitoringmethoden im Bodensee. Aqua & Gas 7/8: 56–62

Resilienz – ein kleiner Exkurs

In ökologischen Studien wird Resilienz unterschiedlich definiert [2]: zum einen als die Fähigkeit eines Systems, angesichts einer exogenen Störung Veränderungen zu widerstehen und seine Funktion aufrechtzuerhalten (Widerstandsfähigkeit) [3], zum anderen als Prozess der Erholung nach einer Störung, also die Fähigkeit eines Systems, nach Ende der Störung wieder in den Ausgangszustand zurückzukehren (Erholung oder Reversibilität) [4, 5].

Resilienz zu quantifizieren ist nicht trivial. Mithilfe eines bivariaten Konzepts können Widerstandsfähigkeit und Erholung zusammen als messbare Komponenten berücksichtigt werden [2]. Die Auswirkungen der Störung und die Erholungsrate werden darin gemeinsam betrachtet, beide nach Normalisierung auf den ungestörten Zustand eines Systems. Letzteren zu rekonstruieren, z. B. den ungestörten Zustand eines Seeökosystems vor der Eutrophierung oder erfolgten Klimaänderungen, ist daher von zentraler Bedeutung. Dies kann in der Praxis aber sehr schwierig oder sogar unmöglich sein, v. a. wenn sich der Prozess über mehrere Jahrzehnte erstreckt und/oder Forschung erst nach den Störungsereignissen erfolgt. Eine Kombination aus Langzeitdaten (z. B. Monitoring), der Rekonstruktion der Bedingungen vor der Störung (z. B. Sedimentologie, alte DNA), der Analyse von ungestörten, aber ansonsten vergleichbaren Referenzsystemen und experimentellen Ansätzen kann dazu beitragen, ein robustes Bild des ungestörten Systemzustands zu erhalten. Idealerweise werden dabei die physikalisch-chemischen und die biologischen Aspekte des Systems abgedeckt. Solche Rekonstruktionen erfordern jedoch hochgradig interdisziplinäre Ansätze, die oft schwer realisierbar sind. Dennoch helfen derartige Untersuchungen, die Faktoren und Prozesse zu verstehen, die die Widerstandsfähigkeit eines Systems bestimmen, und zu erkennen, ob Systeme Gefahr laufen, in einen alternativen stabilen Zustand überzugehen. Letzterer beschreibt die Situation, wenn die Störung die Belastbarkeit eines Systems erschöpft hat. Dieses kann sich dann nicht mehr widersetzen und/oder erholen und tritt nach Überschreitung eines sogenannten Kipppunktes in einen alternativen stabilen Zustand ein. Dieser und der Wechsel dorthin ist, auch nach Beendigung der Störung, nicht gleich dem Ausgangszustand. Ökosysteme werden zunehmend als dynamische Systeme erkannt, die nicht notwendigerweise direkt zu den früheren Bedingungen zurückkehren, selbst wenn die Stressfaktoren entfernt werden.

Danksagung

«SeeWandel: Leben im Bodensee – gestern, heute und morgen» ist ein internationales Forschungsprojekt, das im Rahmen des Interreg-V-Programms «Alpenrhein-Bodensee-Hochrhein (Deutschland/Österreich/Schweiz/Liechtenstein)» unterstützt wurde und Mittel aus dem Europäischen Fonds für regionale Entwicklung sowie Fördergelder vom Schweizer Bund und den Kantonen erhielt. Es bestand keine aktive Mitwirkung seitens der Geldgeber bei der Entwicklung des Studiendesigns, der Datenerfassung und -analyse, der Entscheidung zur Veröffentlichung oder bei der Erstellung der Manuskripte für die vielfältigen Projektarbeiten.

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