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Fachartikel
18. November 2020

Zustandsüberwachung von Maschinen

Defektbasierte Anomaliedetektion

Eine Zustandsüberwachung kann bekanntlich unnötige Ausgaben einsparen. Aber einfache IoT-Sensoren, die RMS-(Root-Mean-Square-)Messwerte verarbeiten, können Maschinendefekte oft erst erkennen, wenn sie hörbar sind. Dies stellt eine kontinuierliche Überwachung infrage. Mittels besserer Daten können die Erwartungen von Maschinenbetreibern jedoch erfüllt werden. Eine vorgängige Defektklassifikation kann die Anomaliedetektion verbessern.
Rudolf Tanner, Christine Tanner, 

Bei Wasserwerken, Kläranlagen, Gas- und Elektrizitätsversorgern wird eine hohe Verfügbarkeit erwartet. Dies erreicht man durch Redundanz von Maschinen oder Prozessstufen oder mittels vorbeugender Wartung. Da die beiden Ansätze mit hohen Kosten verbunden sind, ist das Thema vorausschauende Wartung bei der Industrie aktuell. Kostspielig ist sicher der Bau von redundanten Prozessstufen, aber auch das Ersetzen von guten Komponenten wie Wälzlager oder das unnötige Revidieren von Getrieben. Ausserdem kann der Platzmangel in Städten ein Wachstumshindernis sein. Eine vorausschauende Wartung bzw. zustandsgeführte Wartung, die sogenannte «Wartung 4.0», kann für kritische oder teure Anlagen eine Alternative sein.
Eine Vielzahl von «Wartung 4.0»-Lösungen sind auf dem Markt und werden in Pilotversuchen getestet. Aus Kostengründen sind Kompaktsensoren, sog. «smarte Sensoren», populär. Kompaktsensoren sind batteriebetrieben, verwenden stromsparende MEMS (Micro-Electro-Mechanical-System)-Mikrochips zur Vibrationsmessung und versenden die Messdaten mittels Funk in die Cloud, wo der Kunde die Daten studieren kann. Um eine lange Batterielebensdauer zu garantieren, werden zumeist nur RMS (Root-Mean-Square, quadratischer Mittelwert)-Messungen durchgeführt. Solche Mittelwertmessungen geben Auskunft über eine physikalische Messgrösse wie die Schwinggeschwindigkeit, z. B. über eine Sekunde oder noch kürzer.
Unterschieden wird hier zwischen technischen Lösungen, die mit RMS oder Rohdaten arbeiten. Unter Rohdaten sind hochaufgelöste Messdaten mit maximalem Informationsgehalt zu verstehen, die es u. a. auch erlauben, einen Wälzlager- oder Getriebeschaden frühzeitig zu erkennen. Mit beiden, RMS und Rohdaten, lassen sich Trends darstellen, aber die Aussagekraft kann sehr unterschiedlich sein.
Nachfolgend werden Messungen mit RMS und Rohdaten gegenübergestellt und deren Eigenschaften erörtert. Der Fokus liegt auf Wälzlager und Getriebe. Es ist nicht überraschend, dass ein höherer Informationsgehalt der Daten zu besseren Aussagen über den Zustand einer Anlage führt.

DEFEKTE ERKENNEN

Defekte bei rotierenden Maschinen mittels Vibrationsanalyse zu erkennen, ist eine seit über 30 Jahren anerkannte Methode [1]. Die Norm ISO 10816-3 beinhaltet Grenzwerte (Zonengrenzen) für die RMS-Schwinggeschwindigkeit bei Wälzlagern unter Berücksichtigung des Unterbaus, Achshöhe und Maschinenleistung. Die Schwinggeschwindigkeit wird heute in der Regel mittels Integration der Beschleunigung, zwischen 10 und 1000 Hz, berechnet. Ist die Schwinggeschwindigkeit hoch, ist üblicherweise auch etwas hörbar. Wälzlagerdefekte, wie die Grübchenbildung in einer Lagerschale, beginnen ganz klein und wachsen stufenweise, aber stetig an. Kleine Grübchen regen die Umgebung nur schwach an. Deshalb sind solche Defekte im Frühstadium nur in hohen Frequenzen weit über 1000 Hz erkennbar. Mit der Vergrösserung der Grübchen und der angeregten Masse wandert deren Signalmuster von hohen zu tiefen Frequenzen und ist im fortgeschrittenen Stadium mittels der Schwinggeschwindigkeit auch messbar bzw. hörbar. Deshalb ist die RMS-Schwinggeschwindigkeit zur Früherkennung von Defekten weniger geeignet. Des Weiteren eignet sich ein RMS-Messwert eher nur für stationäre Maschinen, d. h. konstante Drehzahl und Last, weil ein Mittelwert nur dann auch aussagekräftige Trends generieren kann.
Die MEMS-Beschleunigungssensoren [2] in den Kompaktsensoren können oftmals nur bis 1 kHz messen und genügen der ISO-Norm. Ihre Dynamik liegt heute bei ca. 12–14 Bit, was die Früherkennung von Schäden beschränkt, wohingegen ein Piezosensor schon 20 Bit erreicht. Für einfache Anwendungen oder beschränkte Erwartungen des Anlagenbetreibers können Kompaktsensoren ausreichen, um sich ein Bild des Maschinenzustands (machine health) zu machen.
Stand der Technik in der Anlagenüberwachung sind sog. Anomaliedetektoren [3]. Auf einer Skala von z. B. 1 bis 10 wird dem Betrachter angezeigt, wie stark sich die aktuell gemessenen Daten von einem Referenzwert (neue/revidierte Anlage) unterscheiden. Wenn ein hoher Wert über Tage angezeigt wird, sollte man die Maschine aufsuchen und die Ursache finden. Diverse Kompaktsensoren haben hierfür eine Fingerprint- bzw. Trainingstaste. Wenn man diese drückt, ermittelt der Sensor den Referenzwert und speichert diesen ab. Wenn sich dann die Last, das geförderte Medium (bei Pumpen) oder die Drehzahl der Maschine ändert, führt dies offensichtlich zu untypischen Werten ohne Defektursache, was oftmals Falschalarme hervorruft.

DEFEKTE KLASSIFIZIEREN

Die technische Herausforderug bei der vorausschauenden Wartung ist, einen Defekt zu erkennen. Die Königsdisziplin ist, die verbleibende Lebensdauer der Komponente abschätzen zu können: RUL (Remaining Useful Life). Erwünscht sind Systeme, die eine hohe Sensitivität (Trefferquote/Empfindlichkeit) und hohe Spezifität (wenig Falschalarme) haben. Sensitivität und Spezifität sind leider Gegensätze, die oftmals nicht gleichzeitig verbessert werden können. Um die Defekterkennung dennoch zu verbessern, kann man eine weiterführende Defektklassifikation hinzuziehen und Sensitivität und Spezifität optimieren. Unter einer Klassifikation verstehen wir die Fähigkeit, spezifische Defekte als solche zu erkennen.
Der RMS-basierte Anomaliedetektor sagt dem Kunden nur, dass etwas «faul» ist, und er muss die Maschine anhalten und untersuchen. Erst dann kann er entscheiden, ob ein Weiterfahren möglich oder eine Reparatur nötig ist. Wenn der Kunde aber weiss, welcher spezifische Defekt existiert, und er womöglich dessen Entwicklung auch verfolgen konnte, kann er eine bessere Entscheidung treffen. Um aber eine Klassifikation eines Schadens vorzunehmen, braucht es hochwertige Daten, d. h. hochaufgelöst und von entsprechender Dynamik. Des Weiteren sind Informationen rund um die Maschine, wie Schmieraktivitäten, sehr hilfreich und unbedingt der Überwachung zuzuführen, um die Analyse zu verbessern.

ERFAHRUNGEN AUS DER PRAXIS

Figur 1 zeigt den Verlauf, Trend der gemessenen RMS-Schwinggeschwindigkeit eines Wälzlagers bei einem 600-kVA-Generator. Der RMS-Messwert war unter der ersten ISO-10816-3-Zonengrenze, es bestand kein Grund zur Sorge gemäss ISO. In diesem Beispiel hat der Kunde das Lager ersetzt, als der Schaden (Foto in Fig. 1)
Ende August hörbar wurde. Dies kam aber nicht überraschend, weil der Anlagenbetreiber vom Defekt wusste und sich vorgängig ein neues Wälzlager besorgte. Dank einer defektbasierten Anomaliedetektion war seit Monaten bekannt, dass der Aussenlagerring eine weitere Stufe der Defektentwicklung erreicht hat. Figur 2 zeigt grafisch den Verlauf von sechs Defektanomaliewerten über zwölf Monate. Auf einer firmeneigenen Prüfbank werden Industrielager vom Typ SKF 6319C3 durch Überlast langsam zerstört. Die Defektentwicklung wird stündlich protokolliert und liefert Kenntnisse über RUL. Figur 3 zeigt ein weiteres Beispiel der RMS-Schwinggeschwindigkeit. Wie aus dem Schulbuch zeigt der Trend linear nach oben und die Messwerte steigen stetig bis auf 0,6 mm/s an, wenn das Lager ausfällt. Auch hier zeigt sich, dass der RMS-Pegel noch in Zone A (unbedenklich) gem. ISO 10816-3 liegt, wohingegen die Defektklassifikation einen Lagerdefekt aufzeigt.
Figur 4 zeigt einen Fall, wo die Schwingungswerte beim Innenringlagerdefekt-Trend nach jeder Schmierung absinken. Solche Trendkurven können nur mittels hochaufgelöster Rohdaten erstellt werden. Der entsprechende RMS-Trend (Fig. 5) zeigt sich von der Schmierung eher unbeeinflusst und liefert den Wartungsleuten kein Feedback, um deren Arbeit zu verbessern, beispielsweise die Schmierung anzupassen, um die Lebensdauer der Wälzlager zu erhöhen.
Aber ohne Kenntnis der Schmierintervalle wäre es schwierig, dieses Verhalten zu erklären, d. h. eine Korrelation herzustellen, oder falsche Interpretationen zu vermeiden. Die Qualität von Analysen verbessert sich, wenn man sich ein Gesamtbild von der Anlage machen kann und das Wartungspersonal diesbezüglich offen ist und alle Arbeiten protokolliert.
Die Erfahrungen aus der Praxis zeigen, dass die populäre RMS-Schwinggeschwindigkeit weder ein Garant für das Erkennen von Lagerdefekten ist, noch das Wartungspersonal unterstützt, um z. B. den Schmierprozess zu verbessern.

ANOMALIEDETEKTION 4.0

Hochaufgelöste Vibrationsdaten sind Daten, deren Auflösung hoch genug ist, um im Frequenzspektrum falsche Interpretationen zu vermeiden. Eine Defektfrequenz von 50,6 Hz soll z. B. nicht mit der Netzfrequenz von 50,0 Hz verwechselt werden. Eine Elektronik, welche diese Gewissheit liefern kann, ist offensichtlich etwas teurer als ein Kompaktsensor, aber der Mehrwert ist signifikant.
Wir verknüpfen Anomaliedetektion mit Defektklassifikation, was hochaufgelöste Daten voraussetzt. Anlagenbetreiber erhalten Zusatzinformationen, die es ihnen erlauben, bessere Entscheide zu treffen: ob die Maschine sofort abzuschalten ist, ob eine Schmierung hilft oder ob man die Produktion bei reduzierter Last fortführen kann.
Zentral für die defektbasierte Anomaliedetektion sind Defekttrends, die maschinenspezifisch erstellt werden müssen, um Defektmuster überhaupt erkennen zu können. Damit die Signalenergie für jeden Defekttyp korrekt bestimmt werden kann, kann man wie bei einem Mobilfunkempfänger einen sog. «Searcher» verwenden [4]. Das Resultat sind dann Trendgrafiken (Fig. 6) von Komponenten wie Getriebestufen (Zahnrädern), Laufrädern oder Wälzlagern.
Solche Trendgrafiken können auch zur schnellen Zustandsübersicht verwendet werden und sind für jedermann verständlich: Eine ansteigende Linie bedeutet steigende Energie in den relevanten Defektfrequenzen. Solche Maschinen-Zustandsaussagen werden üblicherweise in einem Dashboard dem Maschinenbetreiber präsentiert, siehe Beispiel in Figur 7, und erleichtern die Überwachung. Solche Resultate können auch mittels einer sicheren Datenschnittstelle vom Datenserver in das Leitsystem übertragen werden, um dort dargestellt zu werden. Dies benötigt üblicherweise noch die Unterstützung des Lieferanten des Leitsystems, um die Daten einzupflegen und darzustellen. Die Erfahrungen mit einem Wartungssoftwarelieferanten sind sehr positiv. Der Aufwand betrug dort ca. zwei Stunden, um deren Leitsystem (Software) für die Darstellung von externen Daten vorzubereiten.
Des Weiteren ermöglichen hochaufgelöste Rohdaten im Edge-Device, die Box bei/auf der Maschine, eine automatische 24/7-Dauerüberwachung von spezifischen Frequenzbereichen, den Defektfrequenzen, mit Alarmauslösung, wenn Grenzwerte verletzt werden. Solche Grenzwerte lassen sich dank kontinuierlicher Aufzeichnung auch automatisch berechnen, was keinen Experten mehr benötigt und Sensitivität sowie Spezifität optimiert, wenn die korrekte statistische Methode verwendet wird. Defektbasierte Anomaliedetektion (Fig. 2) ist ein Verfahren, um die Anomaliedetektion robust zu machen und die Nachteile der RMS-basierten Anomaliedetektion zu umgehen.

FAZIT

Kostengünstige Kompaktsensoren, sog. smarte Sensoren, verarbeiten RMS-Messwerte (Mittelwerte) statt hochaufgelöste Rohdaten, wie sie beispielsweise Piezo-Schwingungssensoren liefern. Die Erfahrung hat gezeigt, dass die RMS-Schwinggeschwindigkeit bei keinem der von uns überwachten Wälzlager einen Defekt rechtzeitig anzeigte. Mittels hochaufgelöster Schwingungssignale liessen sich aber glücklicherweise Defekte frühzeitig erkennen und deren Entwicklung verfolgen. Maschinenbetreiber konnten so rechtzeitig Massnahmen ergreifen, um einen unerwarteten Maschinenausfall, dann üblicherweise zum ungünstigsten Zeitpunkt, zu verhindern. Aus den Rohdaten lassen sich Trends für jeden Defekttyp bei Zahnrädern oder Wälzlagern berechnen. Heute werden Anomaliedetektoren z. T. basierend auf KI eingesetzt, um die Interpretation des Maschinenzustandes zu erleichtern. Um die Qualität von Anomaliedetektoren zu verbessern, sollte eine Defektklassifikation mitberücksichtigt werden. Dadurch werden Anomaliedetektoren robuster und praxistauglich. Um den Erwartungen von Anlagenbetreibern an ein schwingungsbasiertes Überwachungsgerät gerecht zu werden, erachten wir die Verwendung von hochaufgelösten Rohdaten als unumgänglich. Ansonst geht das Vertrauen in die vorrausschauende Wartung verloren, bevor sie zeigen konnte, welches Potenzial in ihr steckt.

Bibliographie

[1] Randall, R. (2011): Vibration-based Condition Monitoring. Wiley, Chichester/UK
[2] Tanner, R. (2019): Der Blick in die Zukunft – das wäre schön. Polydrive 2/19. https://mechmine.com/images/Downloads/mechmine_llc_predictive_maintenance_in_der_praxis_polydrive219.pdf
[3] Tanner, R. (2019): Im Tal der Tränen? AUTOMATION Mai 2019. https://mechmine.com/images/Downloads/mechmine_AM0519_Predictive_Maintenance_swiss_engineering_Industrie4dot0.pdf
[4] (Editors) Woodard, J.; Tanner, R. (2004): WCDMA: Requirements and Practical Design. Wiley, Chichester/UK

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